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Trauer – Vom Einbruch des Realen

Dieser Artikel von Paula-Irene Villa erschien als erstveröffentlichung am  4. März 2016 auf dem Blog der Feministischen Studien

»But atrocity is nothing new, not to humans, not to animals. The difference is that in our time it is uniquely well organized, carried out with pens, train carriages, ledgers, barbed wire, work camps, gas. And this late contribution, the absence of bodies. No bodies were visible, except the falling ones, the day America’s ticker stopped. Marketable stories of all kinds had thickened around the injured coast of our city, but the depiction of the dead bodies was forbidden. It would have been upsetting to have it otherwise. I moved on with the commuters through the pen.« (Teju Cole, Open City, 58)

Am 2. September 2015 war dann doch ein Körper zu sehen. Ein kleiner, ein Kinderkörper. An den Strand gespült, auf dem Bauch liegend, wie sanft und entspannt schlafend. Wäre da nicht der Ort, der eigentlich idyllisch – ein Strand aus hellem Sand mit sanfter Brandung – doch die Sanftheit grausam verunmöglicht und klar macht, hier liegt ein toter Körper. Ein totes Kind. Ertrunken beim Versuch mit seiner aus Aleppo in Syrien stammenden Familie von der Türkei aus die griechische und damit zur EU gehörende Insel Kos zu erreichen. Ein toter Flüchtling also. Paradox tönte es aus der mediatisierten Öffentlichkeit sofort und laut, dieses sei »ein Foto, um die Welt zum Schweigen zu bringen« (Die Zeit 3.9.2015) Das Bild symbolisiere die – so der twitter-hashtag #KiyiyaVuranInsanlik – ›fortgespülte Menschlichkeit‹ angesichts der Situation im Mittelmeer. Man müsse eigentlich, so ein weiterer Kommentar »nur schweigen und, sofern man ein Mensch ist, weinen« (Die Zeit 3.9.2015). Gemeint ist hier wohl ein Schweigen aus Betroffenheit, Trauer, Fassungslosigkeit, Respekt.

Für Judith Butler sind die existenzielle, schmerzhafte Verunsicherung des Selbst und die daraus resultierende Unterbrechung des normalen Gangs der Dinge wesentliche Qualitäten der Trauer. Wer trauert, ist ergriffen vom Verlust einer anderen Person, eines Lebewesens, eines Objekts und gewissermaßen bewusst außer sich, im Falle des Schweigens auch außerhalb der Sprache.

Das Wissen der Trauer ist eines, das den Verlust an sich meint, nicht aber die verlorene Person meinen muss, vielleicht gar nicht meinen kann. Denn der Verlust durch den Tod eines anderen Menschen eröffnet die Frage: Wer war dieser Mensch – für sich? Für mich? Was macht der Tod dieser Person aus – für mich? Für sich? Für andere? Wie ist der Verlust? Was verliere ich? Was und wen verlieren andere? Was berührt mich am Verlust?

Wer ist, wer war dieses Kind? Wer seine Familie? Was ist seine Geschichte? Was habe ich damit zu tun?

Trauer impliziert, von einem Verlust berührt zu werden. Und das meint zwingend, eine innere Beziehung zum/zu der Andere/n einzugehen. Trauer basiert darauf, dass der Verlust ›etwas mit mir macht‹, ich jedoch nicht wissen kann, was ein Verlust genau mit mir machen wird, da ein Anderer bzw. eine Andere involviert ist:

»(Man) trauert (…) vielleicht dann, wenn man akzeptiert, dass man durch den Verlust, dem man sich stellt, verändert werden wird, und zwar möglicherweise für immer. Vielleicht hat Trauern damit zu tun, dass man sich bereit erklärt, eine Veränderung durchzumachen (…), deren ganzes Ergebnis man nicht im voraus wissen kann« (Butler, GL, 38).

Über diese subjektiv-ethische Dimension hinaus betont Judith Butler, dass und inwiefern Trauer ein Ausdruck des Politischen ist, ja womöglich der politischste aller Affekte sein könnte. Denn trauern können wir nur um diejenigen, von denen wir wissen, und die wir – im Sinne Lévinas – als menschlich (wie wir, und doch ganz anders, weil einzigartig) anerkennen. Wir können nur um diejenigen trauern, die uns etwas angehen. Und dies ist politisch voraussetzungsreich. Anerkennung ist systematisch ungleich verteilt, auch die Anerkennung als ›Mensch wie ich‹ ist empirisch keineswegs universal und automatisch gegeben. Die Geschichte kann ein langes Lied der Dehumanisierung singen, deren Refrain Auschwitz wäre.

Und auch aktuell: Die diskursive Entmenschlichung (›Asylanten‹, ›Flut‹, ›Welle‹, ›Mob‹, ›Horde‹, …) zeigt überdeutlich tragisch und mit gewaltvollen Effekten, wie wirksam und wie politisch die Frage nach der Trauer ist:

»Die aus- und abgrenzende Verteilung öffentlicher Trauer ist politisch äußerst bedeutsam (…). Welches Leben gilt als betrauerbar, als schützenswert, als Leben von Subjekten mit zu respektierenden Rechten?« (Butler, RdK, 44f.)

»Wer gilt als Mensch? (…) Wessen Leben zählt als Leben? Und schließlich: Was macht ein betrauenswertes Leben aus?« (GL, 36; Hervorh. i.O.).

Das Foto des dreijährigen Ailan Kurdi war ein Moment kollektiver Anerkennung, dass es bei den ›Flüchtlingen‹ um verletzbare Menschen geht, zu denen wir (z.B. als deutsche Staatsbürger_innen) eine Beziehung haben – ob wir wollen oder nicht. Wir sind ihnen verpflichtet. Ihr Tod und ihr Verlust, das Leid ihrer Angehörigen machte (viele von) uns für einen flüchtigen Moment fassungslos, wir trauerten. Das Bild markierte einen punktuellen Einbruch des Realen, des Wirklichen, so Navid Kermani in seiner aktuellen Reportage, in einen privilegierten, u.a. deutschen Raum, der sich einige Jahrzehnte lang leisten konnte, bestimmte Verwundbarkeiten und Tode sowie die eigene Verstrickung darin nicht sehen, also nicht anerkennen zu müssen.

Doch so schnell das Bild auch in den digitalen Medien zirkulierte, und darin auch auf sehr problematische Weise zu einem Produkt der Aufmerksamkeitsökonomie wurde, so schnell verschwand es auch wieder. Zum trauern (zum schweigen, zum innehalten, zum verändert-werden) blieb da kaum Zeit. Womöglich begründet diese Unfähigkeit zur Unterbrechung, zur echten Trauer das Unvermögen, die Verstrickung mit dem/den Anderen anzuerkennen und sich davon berühren zu lassen. Auf diesem Resonanzboden nur ist es Europa möglich, diejenigen abzuwehren, die Schutz und Anerkennung suchen.

»Ich denke, dass eine vollkommen andere Politik entstehen würde, wenn eine Gemeinschaft lernen könnte, ihre Verluste und ihre Verletzbarkeit auszuhalten. So eine Gemeinschaft wüsste besser, was sie an andere bindet. Sie wüsste, wie radikal abhängig sie von der Beziehung zu, vom Austausch mit anderen ist.« (Butler 2009b, 71f.; Hervorh. d.V)